Zum Tode von Hans-Jochen Vogel: Gerechtigkeit war sein großes Thema

Veröffentlicht am 19.08.2020 in Aktuelles
Auch der SPD Ortsverein Mühlhausen-Rettigheim-Tairnbach gedenkt und verneigt sich vor der Leistung des großen Sozialdemokraten Hans-Jochen Vogel. Hier möchten wir daher einen Nachruf von Renate Faerber-Husemann veröffentlichen, welcher zuvor im Vorwärts erschienen ist (https://www.vorwaerts.de/artikel/tode-hans-jochen-vogel-gerechtigkeit-war-grosses-thema).
Hans-Jochen Vogel ist tot. Der langjährige SPD-Vorsitzende starb am Sonntag im Alter von 94 Jahren in München. Bis zuletzt war er eine wichtige Stimme innerhalb und außerhalb der Partei.

Er wäre ein guter Bundeskanzler gewesen. Diese Mischung aus absolutem Gerechtigkeitssinn, politischem Pragmatismus und klarem Wertekanon hätte dem Land gut getan. Nicht der Hauch eines Skandals klebte jemals an Hans-Jochen Vogel, dem Vorsitzenden der SPD (1987 bis 1991) und der SPD-Bundestagsfraktion (1983 bis 1991) in den schwierigen Jahren nach dem Ende der sozialliberalen Koalition. Gewiss, einfach war er nie, er hatte in der Bundestagsfraktion und im Kabinett einen Ruf als Pedant und Choleriker. „Oberlehrer“ nannten sie ihn häufig. Er konterte elegant: „Lieber Oberlehrer als Oberfeldwebel.“ Dabei ging zeitweise unter, wie mutig und reformfreudig er war, wie liberal und modern die Gesetze waren, die seine Handschrift trugen.

Einer der  beliebtesten Politiker der Bundesrepublik

Schon in jungen Jahren als Münchner Oberbürgermeister (1960 bis 1972) war der leidenschaftliche Sozialdemokrat erfolgreich und einer der bekanntesten und beliebtesten Politiker der Bundesrepublik. Als Bundesminister für Städtebau glänzte er mit seiner kommunalpolitischen Kompetenz. Als Justizminister in den schwierigen Jahren des RAF-Terrors verlor der promovierte Einser-Jurist nie seinen inneren Kompass. Große Reformen wie beim Familien- und Scheidungsrecht, beim Paragraphen 218 und bei der Wehrdienstverweigerung wurden von der Opposition erbittert bekämpft und teilweise später vom Bundesverfassungsgericht verwässert.

Nach einem Zwischenspiel als Regierender Bürgermeister und Oppositionschef in Berlin 1981 kam er verändert nach Bonn zurück. Erfolgreich hatte er in der geteilten Stadt die Hausbesetzerszene befriedet, sich eingelassen auf die Gründe für den Jugendprotest. Die Politik der Grünen und Alternativen begleitete er in Berlin und in Bonn von Anfang an mit Neugier, zeigte vor allem für die grünen Frauen „großen Respekt“, wohl das höchste Lob, das er zu vergeben hatte. Überhaupt die Frauen, sie haben Vogel viel zu verdanken. Als Parteivorsitzender setzte er 1988 beim Parteitag in Münster die Frauenquote durch, und Herta Däubler-Gmelin wurde die erste stellvertretende Parteivorsitzende. Gerade 16 Prozent Frauen saßen damals für August Bebels Partei im Bundestag. In Münster wurde gegen heftigen Widerstand beschlossen: 40 Prozent Geschlechterquote für alle Ämter und Mandate. Heute sind 40 Prozent aller SPD-MdBs Frauen!

Ein in Göttingen geborener Bayer

Immer wieder übernahm Hans-Jochen Vogel unmögliche Aufgaben: Die Kanzlerkandidatur 1983 gegen den durch den Umfall der FDP zum Regierungschef aufgestiegenen Helmut Kohl war aussichtslos, die Arbeit als Oppositionschef im Bundestag nur selten erfreulich. Die eigene Fraktion spottete gerne über die Klarsichthüllen, das Dezernententum, die Wiedervorlagen und sah dabei nicht, dass er der Fraktion wieder eine Perspektive gab. Durch disziplinierte Sacharbeit verhinderte er, dass seine Leute nach dem Regierungsverlust in selbstzerstörerischer Weise aufeinander einschlugen.

Es war seltsam, wie stark in diesen Jahren Klischee und Wirklichkeit auseinander klafften: Der in Göttingen geborene Bayer war ein glänzender Debattenredner, ein Mann, der Emotionen wecken und auch Zweifler überzeugen konnte. Was aber schrieben die Journalisten? Er habe „erstens, zweitens, drittens…“ gesagt. Er verfügte über einen grimmigen Humor und eine bildreiche Sprache. Was aber klebte? Das Oberlehreretikett. Er war stets von sprichwörtlicher Pünktlichkeit, eine so angenehme wie seltene Tugend in der Politik. Seine Gegner nannten das Pedanterie.

Er blieb Autor und Ratgeber bis zuletzt

Mit 65 Jahren tat Vogel, was damals unüblich war in der Politik: Er warf Bürden ab, zunächst den Parteivorsitz, dann den Fraktionsvorsitz, und 1994 auch sein Abgeordnetenmandat. Er wolle gehen, so lange der eine oder andere das noch bedauere und bevor hinter seinem Rücken gefragt werde, wann der Alte endlich seinen Platz räumen wolle. Und dann geschah Erstaunliches: Auch jene, die zuvor unter seiner Knute gestöhnt hatten, vermissten ihn bald und gaben das offen zu.

Aller Bürden ledig, blieb er ein begehrter Redner, Ratgeber und Interviewpartner. Auch als er aus ganz praktischen Gründen mit seiner Frau in ein Münchner Altenstift gezogen war, absolvierte er ein erstaunliches Arbeitspensum. Er leitete den von ihm mitgegründeten Verein „Gegen das Vergessen – für mehr Demokratie“, den nach ihm Joachim Gauck übernahm. Immer wieder rief er die Menschen auf: „Widersprecht, widersteht und bringt euch ein, um neuem Unheil vorzubeugen.“

Gerechtigkeit war sein großes Thema

Das tat er auch selbst bis ins ganz hohe Alter. Auch als es ihm gesundheitlich längst nicht mehr gut ging, wurde er nicht leiser. Gerechtigkeit blieb sein ganz großes Thema, etwa als er nach der Bundestagswahl 2013 warnte: „Mich beunruhigt die wachsende soziale Kluft. Einer großen Mehrheit geht es immer besser, während es Menschen in prekären Lebensverhältnissen immer schlechter geht.“  Er plädierte für einen Marshallplan für Griechenland und andere Krisenländer: „Wir Deutschen sollten nicht ganz vergessen, was den Griechen durch uns im Zweiten Weltkrieg widerfahren ist.“ Den geschichtsbewussten Mann vom Jahrgang 1926 sorgte die wachsende Ungerechtigkeit in Europa: „Mich erinnert die Situation an die 30er Jahre bei uns und die Bedeutung der Arbeitslosigkeit für den Aufstieg Hitlers.“

Noch Ende vergangenen Jahres erschien sein letztes Buch, in dem er sich mit den explodierenden Mieten und Bodenpreisen auseinandersetzt. Es sei ein Gebot der Gerechtigkeit, dass „leistungslose Bodengewinne“ zum Wohl der Allgemeinheit abgeschöpft werden, schreibt er.

Hans-Jochen Vogel war einer der ganz Großen in der SPD. Und trotzdem konnte er an die Adresse der eigenen Leute sagen: „Wir sollten uns bei schwierigen Themen häufiger als bisher fragen: Was würde wohl Willy Brandt dazu sagen?“    

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